menu Startseite
Schreibhandwerk

Gefühle im Text

Ronny Rindler | 12. Dezember 2021

Gefühle im Text sind der Knackpunkt. Sie beschreiben nicht nur das Empfinden einer Figur, sie sind der Antrieb für ihre Handlungen. Der bewusste Umgang mit Gefühlen im Text fesselt den Leser und macht dein Schreiben organischer.

Mal ganz generell gefragt: Was treibt uns an? Es sind die Gefühle. Gefühle motivieren uns entweder, Dinge zu tun oder Dinge sein zu lassen. Sie halten uns in der Liebe zum Narren oder lehren uns in der Finsternis das Fürchten. Im Text erfüllen Gefühle aber durchaus auch noch weitere Funktionen:

GEFÜHLE SIND ARGUMENTATION
Gefühle im Text begründen entweder das Verhalten deiner Figur (Charakteremotion = Gefühl einer Figur) oder die Kernaussage deiner Geschichte (Leseremotion = Gefühl, das beim Leser entsteht). Beobachte dich selbst! Viel öfter als du denkst, entscheiden wir auf Basis eines Gefühls gegen unseren Verstand. Ebenso ist für das Handeln deiner Figur ein Gefühl ein sehr starkes Argument. Aber auch ein Gefühl, das beim Leser entsteht, übt starken Einfluss darauf aus, ob er deiner Geschichte folgt, sie glaubt und ob ihre Botschaft ihn vielleicht sogar ins Wanken bringt.

DAS BERÜHMTE BAUCHGEFÜHL
Unser Bauchgefühl ermöglicht es uns, binnen von Sekunden rein intuitiv wichtige Entscheidungen zu treffen. Das Buch BLINK! Die Macht des Moments von Malcolm Gladwell beschäftigt sich auf eindrucksvolle Weise mit diesem Thema. Diese Entscheidung ist oft sogar richtig. Da wir das wissen (wenn vielleicht auch nur unbewusst), vertrauen wir unserem Gefühl.

Darum ist das Gefühl oft das stärkste (wenn oft auch unlogischste) Argument überhaupt. Aus diesem Grund ist das Gefühl auch so hoch im Kurs. Wunderbare Beispiele dafür sind Figuren wie Data vom Raumschiff Enterprise oder Pinocchio. Sie gäben alles dafür, fühlen zu können.

Gefühle sind auch im Text ein Indiz für Lebendigkeit. Erst sie ziehen uns in eine Geschichte hinein und lassen ihre Figuren real und glaubhaft wirken. Sie sind die Währung unserer Geschichten. Ein Leser erinnert nur sehr selten Handlung im Detail. Aber er erinnert Gefühle, die er in einer Geschichte erlebt hat.

Ich fühle was, was du nicht fühlst

In jeder Geschichte gibt es zwei Ebenen von Gefühlen: die Gefühle der handelnden Figuren und die Gefühle des Lesers. Beide sind nicht deckungsgleich und werden handwerklich unterschiedlich erzeugt.

GEFÜHLE DER HANDELNDEN FIGUREN
Die Gefühle deiner Figuren verdeutlichst du meist durch Beschreibungen, Metaphern und Vergleiche. Ich gehe später im Artikel noch näher darauf ein. Die Gefühle deiner Figuren können sich schlagartig verändern und sind der entscheidende Spannungstreiber innerhalb einer Szene. Sie bleiben niemals gleich. Spiele damit! Sorge dafür, dass das Gefühl deiner Figur sich innerhalb einer Szene oder Kurzgeschichte stets mindestens einmal dramatisch verändert.

Die Gefühle deiner Figuren erklären und begründen ihr Verhalten. Und die Art und Weise, wie deine Figuren mit ihren Gefühlen umgehen, erzeugt beim Leser Zuneigung oder Abscheu (auf Basis von Moral und Ethik). Sie dir dessen bewusst und nutze es. Denn du kannst das Innenleben deiner Figuren erklären und begründen. Ein Film kann das in diesem Maße nicht!

GEFÜHLE DES LESERS
Die Gefühle, die der Leser beim Lesen deines Textes empfindet, sind individuell und können daher auch nicht beschrieben, sondern nur durch Empathie ausgelöst werden. Das heißt, der Leser muss die Situation, in die deine Figur gerät, verstehen, begreifen und mit Leib und Seele nachempfinden können.

Das braucht eine lange und zielgerichtete Vorbereitung. Den Weg dorthin beschreibt das gute alte Mantra Show, don’t tell. Auch das wird verständlicher, wenn du dich selbst beobachtest: Niemand weint, nur weil die Hauptfigur weint. Wenn eine Figur einfach immer nur ständig weint, weil sie weinen soll, erreicht sie damit höchstens eines: Sie nervt! Wenn der Leser mit ihr weinen soll, muss er begreifen und empathisch nachempfinden können, was sie in diese Situation getrieben hat, die sie nun weinen lässt. Auch das werde ich später im Artikel noch näher beleuchten.

 

Die Gefühle der handelnden Figuren

Niemand tut etwas ohne Grund. Eine Handlung wird stets durch irgendeinen Mangel ausgelöst. Ich habe zu wenig Muskeln, zu wenig Geld, zu wenig Liebe, zu wenig Macht … Aber dieser Mangel wird erst bedeutsam, wenn er von einem entsprechenden Gefühl begleitet wird. Ist es mir egal, dass ich zu wenig Muskeln habe, gehe ich auch nicht zum Sport.

Daher merke dir: Der Mangel definiert das Ziel meiner Figur.

Spannend wird es, wenn der Mangel und das damit verbundene Gefühl für den Leser nachvollziehbar sind und beides die Figur zu einem niederen Ziel führt. Dann nämlich treibt das Handeln deiner Figur den Leser in einen moralischen Konflikt. Er bekommt Gewissensbisse und fragt sich: „Könnte ich mich auch so verhalten?“

Auf dem Weg ans Ziel können Gefühle eine Figur behindern oder antreiben. Je nachdem, wie eine Figur darauf reagiert, wird sie sympathisch oder unsympathisch.

Sympathie wird ausgelöst durch:

  • den unerbittlichen Kampf gegen ein niederes Gefühl
    (Luke Skywalker in Star Wars, Frodo in Herr der Ringe)
  • den unerbittlichen Kampf für ein gutes Gefühl
    (Kampf um die Liebe, das Hören auf das eigene Herz)

Die Verbindung beider Ebenen schafft Helden.

Antipathie wird ausgelöst durch

  • das sich Treibenlassen von einem niederen Gefühl
    (Darth Vader in Star Wars, Gollum in Herr der Ringe)
  • den unerbittlichen Kampf für ein negatives Gefühl
    (Hannibal Lecter im „Schweigen der Lämmer“)

Die Verbindung beider Ebenen schafft Monster.

 

Gefühle im Text helfen, Bedeutung zu erfassen

Jede Geschichte ist eine Kette von Ereignissen. Erst das Gefühl einer Figur macht den Wert eines solchen Ereignisses für den Leser eindeutig erkennbar. Das wird deutlich, wenn wir die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten durchspielen:

  • Die Figur erreicht ihr Ziel und reagiert positiv
  • Die Figur verfehlt ihr Ziel und reagiert negativ
  • Die Figur erreicht ihr Ziel und reagiert negativ
  • Die Figur verfehlt ihr Ziel und reagiert positiv

Indem eine Figur auf ein Ereignis innerhalb der Geschichte emotional reagiert, offenbart sie

  • Innere Konflikte
  • Selbstlügen
  • Träume
  • Sehnsüchte
  • (verborgene) Ängste
  • Stärken
  • Schwächen

Nicht umsonst sagen wir: Beurteile Menschen anhand ihrer Taten und nicht anhand ihrer Worte. Moral und Ethik sind nur Maßstäbe. Jeder kann sie predigen. Entscheidend ist, wie wir handeln, wenn wir in schwierige Situationen geraten. Erst sie offenbaren, ob eine Figur sich moralisch und ethisch verhält oder nicht. Ist eine Figur ihren Gefühlen hilflos ausgeliefert oder kann sie ihre Gefühle überwinden, um ein höheres Ziel zu erreichen?

 

So stellst du Gefühle im Text dar

Die Gefühle deiner Figuren kannst du auf vielfältige Art und Weise darstellen. Im Text hast du wesentlich mehr Spielmöglichkeiten als im Film. Denn du kannst sowohl die Außen- als auch die Innensicht (Gedanken und Gefühle) deiner Figuren darstellen.

GEFÜHLE IN DER AUSSENSICHT
Menschen reden selten über Gefühle. Sie verraten sie durch ihr Verhalten, Mimik und Gestik.

  • Verhalten
    Starke Gefühle müssen wir oft irgendwie kompensieren. Der eine raucht, der andere trinkt, geht Joggen, in den Garten, beleidigt andere oder putzt seine Wohnung. You never know …
  • Mimik
    Ein Blick sagt mehr als tausend Worte. Aber: Sei kreativ und hüte dich vor abgedroschenen Floskeln. Ein großartiger Artikel als Inspiration: https://karrierebibel.de/mimik/
  • Gestik
    Achte auf die Körpersprache in deiner Umgebung. Wie verraten Menschen ihre Gefühle? Habe immer ein kleines Notizbuch bereitliegen, wenn du Serien oder Filme schaust und notiere die auffällige Gesten.
  • Sprache
    Auch wenn Figuren selten sagen, wie sie sich fühlen, kann das, was sie von sich geben dennoch (ungewollt) eine Menge über ihr Gefühlsleben verraten.

GEFÜHLE IN DER INNENSICHT
Im Gegensatz zum Film kannst du im Text Gefühle ebenfalls aus der Innenperspektive darstellen. Dabei helfen dir Vergleiche und Metaphern. Stelle dir folgende Fragen:

  • Welche Farbe hat das Gefühl?
  • Welchen Geruch hat das Gefühl?
  • Wie schmeckt das Gefühl?
  • Welche Konsistenz hat das Gefühl?
  • Aus welchem Material ist das Gefühl?
  • Welches Symbol ist mit dem Gefühl verbunden?
  • Welches Bild passt zu diesem Gefühl?
  • Welche Melodie passt zu diesem Gefühl?
  • Wie fühlt sich das Gefühl an, wenn ich es berühre?
  • Welche Erinnerung löst dieses Gefühl aus?

Gefühle im Text als Spannungstreiber

Wo Gefühle im Spiel sind, entstehen Missverständnisse. Zahlreiche Liebesgeschichten, Dramen und Tragödien bauen lediglich auf einem missverstandenen Gefühl auf. Nutze das für spannende Wendepunkte innerhalb deiner Geschichte. Zum Beispiel:

  • Eine Gestik oder Mimik wird falsch interpretiert
  • Jemand täuscht anhand von Mimik oder Gestik eine falsche Emotion vor
  • Die Gefühle einer Figur führen dazu, dass sie das Verhalten einer anderen Figur fehldeutet
  • Jemand kann seine Gefühle nicht zeigen und gerät dadurch unentwegt in schwierige Situationen
  • Jemand zeigt grundsätzlich zu viel Gefühl und gerät dadurch unentwegt in schwierige Situationen
  • Jemand hat seine Gefühle nicht unter Kontrolle und daher Panik vor bestimmten Situationen (Phobie, Trauma …)

Wie bringe ich den Leser zum Weinen?

Zum Abschluss dieses Artikels möchte ich die wohl am meisten gestellte Frage in den Mittelpunkt rücken: Wie bringe ich den Leser zum Weinen? Nun, wie wir zu Beginn dieses Artikels bereits festgestellt haben, weint kein Leser auf Knopfdruck. Weinen ist das Resultat eines extrem starken Gefühls und dieses Gefühl braucht eine gute Vorbereitung.

Damit der Leser das Grauen einer Situation verstehen kann, muss er alle Hintergrundinformationen exemplarisch und empathisch miterlebt haben. Erklären funktioniert nicht! Finde daher für jede wichtige Grundinformation mindestens eine exemplarische Situation und lass sie den Leser szenisch erleben.

Hat der Leser alle wichtigen Eckdaten miterlebt, kannst du die gewünschte Emotion in einer entsprechenden Szene auslösen, indem du ein überraschendes Ereignis geschehen lässt, das schlagartig die Bedeutung aller vorangegangenen Bausteine auf dramatische Art verdeutlicht. Hast du deine Arbeit gut gemacht, weint der Leser.

Du merkst vielleicht bereits: So ein intensives Gefühl lässt sich im Grunde nur im Roman erzeugen. Denn eine Kurzgeschichte bietet nur selten genug Raum für eine solche Vorbereitung. Wenn du ein Beispiel aus der Praxis haben möchtest, lies! Romane, die mich persönlich zum Weinen gebracht haben, waren Oskar und die Dame in Rosa  von Eric-Emmanuel Schmitt und Morgen und Abend von Jon Fosse.

Geschrieben von Ronny Rindler





play_arrow skip_previous skip_next volume_down
playlist_play