Die Erzählperspektive im Roman
Die Erzählperspektive ist das Tor zu deiner Geschichte. Sie entscheidet darüber, ob der Leser dir gefesselt folgt oder verwirrt aufgibt. Richtig angewendet kann die Erzählperspektive Wunder wirken.
Während meiner Zusammenarbeit mit anderen Autorinnen und Autoren habe ich in den letzten Jahren immer wieder eine Feststellung gemacht: Bei den meisten Texten hapert es an der Erzählperspektive. Viele scheinen sie eher stiefmütterlich zu behandeln. Das ist schade. Denn hat man das Prinzip Erzählperspektive einmal verstanden, macht die Textqualität meistens Quantensprünge.
Erzählperspektive – was ist das?
Beginnen wir ganz allgemein. Jede Geschichte muss erst einmal erzählt werden. Es muss also eine Figur geben, welche die Funktion des Erzählers oder der Erzählerin übernimmt. Hier wurzelt das erste aller Missverständnisse, was die Erzählperspektive betrifft. Denn: In 99 % der Fälle wird eine Geschichte nicht von dem Autor selbst erzählt. Der Autor schlüpft in die Rolle einer fiktiven Figur, welche auf irgendeine Art in die Geschichte verwickelt oder zumindest Zeuge war. Warum ist das so wichtig?
Es gibt keine absolute Wahrheit. Jeder Mensch sieht seine Umwelt anders. Schon allein, weil jedem von uns verschiedene Dinge wichtig sind. Also erzählt auch jeder Mensch ein und dieselbe Geschichte anders. Schauen wir uns ein simples Beispiel an.
Erzählperspektive 1:
Jessy sah den Buschelschwanz zwischen zwei abgestellten Fahrzeugen verschwinden. Mist! „Miez. Miez.“ Sie spähte unter die Autos. Die Kleine schien wie vom Erdboden verschluckt. Bremsenquietschen. Dann ein Knall. Glas zersplitterte. Autotüren flogen. Jessy schoss in die Höhe. Zwei ineinander verkeilte Autos blockierten die Straße. Die Katze stand auf der gegenüberliegenden Seite, zwinkerte Jessy zu und huschte neckisch an einem dieser Fussballjungs vorbei. Die Erleichterung zauberte Jessy ein Lächeln aufs Gesicht.
Erzählperspektive 2:
Tobi klappte die Kinnlade herunter. Ein Erlkönig! Er kannte diese verklebten Autos aus den Automagazinen. Aber jetzt näherte sich ihm einer im wahren Leben: der neue, noch fast vollständig verhüllte BMW. Tobi wühlte in seiner Hosentasche. Wo war nur das verdammte Handy? Er musste ein Foto machen. Unbedingt. Dann ein Knall. Glas zersplitterte. Autotüren flogen. Halleluja. Der Schlitten war geradewegs in einen kleinen Opel gekracht. Dahinter, auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Mädchen. Ein süßes Mädchen. Und es lächelte ihm zu.
Zwei unterschiedliche Erzählpersonen schildern ein und dieselbe Situation: einen Autounfall. Beide Figuren nehmen ihn jedoch völlig anders wahr. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Interessen setzen sie auch unterschiedliche Schwerpunkte. Sie beobachten völlig andere Details desselben Schauplatzes. Jessy ist an dem Kätzchen interessiert, Tobi hat nur Augen für den neuen BMW. Aber das ist noch nicht alles. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Eindrücke bewerten sie das Geschehen auch unterschiedlich. Jessy lächelt, weil das Kätzchen nicht überfahren wurde. In Tobis Welt existiert dieses Tier gar nicht. Die Autos sind wichtiger. Er bewertet die Situation völlig anders und hält Jessys Lächeln für einen Flirt.
Das zeigt: Jede erzählende Figur hat ihre eigene Sichtweise (Perspektive) auf die Welt. Aus dieser individuellen Sicht heraus erzählt sie die Geschichte. Diese individuelle Sichtweise nennt man Erzählperspektive.
Personal vs. Ich
In dem eben genannten Beispiel spricht man von einem personalen Erzähler. Die Geschichte wird aus der individuellen Erzählperspektive einer konkreten und am Geschehen beteiligten Figur erzählt. Das mag den Eindruck erwecken, es gäbe einen Erzähler, der diese Figur wie ein Schatten begleitet. Machen wir es nicht komplizierter als es ist. Vereinfacht kann man sagen: In der personalen Erzählperspektive spricht die erzählende Figur in der dritten Person Singular („er“) über sich selbst.
Warum dieser Aufwand? Ganz einfach: Dem Leser fällt die Zuordnung leichter. In zahlreichen modernen Romanen wechselt die Erzählperspektive von Szene zu Szene. Bei dem personalen Erzähler ist das kein Problem. Der Name der Figur und die Verwendung des entsprechenden Personalpronomens („er“ oder „sie“) ermöglichen dem Leser eine klare Zuordnung. Er weiß immer, wer die aktuelle Situation gerade erlebt und schildert.
Dem personalen Erzähler sehr ähnlich ist der Ich-Erzähler. Wie nahe diese beiden Formen beieinander liegen, wird deutlich, wenn man in dem oben genannten Beispiel einfach Namen und Personalpronomen durch das Wort „ich“ ersetzt:
Erzählperspektive 3:
Ich sah den Buschelschwanz zwischen zwei abgestellten Fahrzeugen verschwinden. Mist! „Miez. Miez.“ Ich spähte unter die Autos. Die Kleine schien wie vom Erdboden verschluckt. Bremsenquietschen. Dann ein Knall. Glas zersplitterte. Autotüren flogen. Ich schoss in die Höhe. Zwei ineinander verkeilte Autos blockierten die Straße. Die Kleine Katze stand auf der gegenüberliegenden Seite, zwinkerte mir zu und huschte neckisch an einem dieser Fussballjungs vorbei. Die Erleichterung zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht.
Im Gegensatz zum personalen Erzähler ist es in der Ich-Perspektive selbst in großen Romanen absolut unüblich, die Perspektive zu wechseln. Auf Dauer wäre es für den Leser einfach nicht zumutbar. Die Zuordnung ist zu schwierig. Der Leser könnte nicht mehr auseinander halten, wer im Augenblick das Geschehen erlebt und die Geschichte erzählt. Viele Autoren empfinden das als Einschränkung. Denn kann die Perspektive in einer längeren Geschichte nicht gewechselt werden, muss sich der Autor auf das Wissen der erzählenden Figur beschränken. Es gibt nur diese eine Wahrheit. Das erfordert viel Geschick und Fantasie im Handlungsaufbau.
Die Stärke der Ich-Erzählperspektive liegt in ihrer Unmittelbarkeit. Sie wirkt authentisch. Der Leser wird eins mit der Hauptfigur. Nicht umsonst ist diese Erzählperspektive gerade in Jugendromanen äußerst beliebt.
Die häufigsten Fehler
So weit, so gut. Was aber macht die Einhaltung der Erzählperspektive nun so schwierig? Wir als AutorInnen haben ein allumfassendes Wissen über unsere Geschichte. Wir kennen die Vorgeschichte, die Hintergründe, jedes noch so kleine Detail, das es vielleicht nie aufs Papier schaffen wird. Und wir sind es nicht gewohnt, in fremde Rollen zu schlüpfen. Daher merken wir es oft nicht, wenn wir aus einer einmal eingeschlagenen Erzählperspektive ausbrechen. Für uns macht alles immer einen Sinn.
Der Leser hingegen bemerkt einen Fehler in der Erzählperspektive sofort. Er kennt nur die Fakten, welche auf dem Papier stehen. Er ist eins mit der Figur. Bricht der Autor dann aus dieser Erzählperspektive aus, sorgt das für Verwirrungen. Der Leser kann sich nicht mehr in das Geschehen hineindenken. Er empfindet kein Mitgefühl mehr. Schlimmstenfalls kann er dem Text nicht mehr folgen.
1. Ich sehe was, was du nicht siehst
Auch wenn der personale Erzähler sich selbst von außen zu betrachten scheint – weder er, noch der Ich-Erzähler können Dinge sehen, die außerhalb ihres Sichtbereiches sind. Auch können beide Erzählformen nur von einem Geschehen berichten, das sie auch persönlich miterlebt haben oder von dem ihnen zumindest zuvor berichtet worden ist.
2. Das Gedankenleser-Syndrom
Weder der personale, noch der Ich-Erzähler können die Gedanken von anderen Personen lesen. Sie wissen nie mit hundertprozentiger Sicherheit, was in ihnen vorgeht. Aber: Sie können Vermutungen darüber anstellen. Sie können das Verhalten anderer Personen beobachten und es anhand ihrer persönlichen Erfahrung auswerten. Das ist der Stoff, aus dem überraschende Wendepunkte gemacht sind. Denn Missverständnisse sind vorprogrammiert.
3. Nicht beschreiben, bewerten!
Kaum ein anderes Formelement kann die Erzählperspektive so gut betonen wie die Beschreibung. Leider erlebe ich in meiner Zusammenarbeit mit anderen Autorinnen und Autoren immer wieder, dass gerade hier viel verschenkt wird. Ein Beispiel:
Erzählperspektive 4a:
Elli betrat den Schulhof. Frau Schrulle erkannte sie schon von Weitem. Sie trug einen grauen Rock und eine Bluse mit Karomuster. Ein Pagenschnitt umrahmte ihr Gesicht.
Auf den ersten Blick ist hier nichts falsch. Doch der Text wirkt ziemlich kalt und trocken. Wir erfahren nichts über Ellis persönliche Sicht. Hinzu kommt, dass Frau Schrulle für Elli offensichtlich keine Unbekannte ist. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass Elli in dieser Situation Frau Schrulle noch einmal so genau beschreibt. Was Elli allerdings tun würde: Sie würde ihre Beobachtungen bewerten. Sie würde die Begegnung mit Frau Schrulle innerlich kommentieren. Schauen wir uns eine andere Version desselben Beispiels an:
Erzählperspektive 4b:
Elli betrat den Schulhof. Frau Schrulle erkannte sie schon von Weitem. Niemand sonst auf dieser Welt lief noch mit solchen Röcken herum. Wahrscheinlich besaß Schrulle den letzten Faltenrock überhaupt. Und diesen trug sie täglich. Spätestens in Kombination mit dem Karomuster ihrer Großmutterbluse machte sie sich eindeutig strafbar. Ganz zu schweigen von dem Pagenschnitt, der Elli an ihre Playmobil-Figur erinnerte. Und der hatte sie gestern den Kopf abgebrochen.
Ein gewaltiger Unterschied! Der Text ist sofort lebendig. Er beschreibt nicht nur Frau Schrulle, er charakterisiert sie auch. Mindestens ebenso viel verrät uns der Text über Elli und ihr persönliches Verhältnis zu Frau Schrulle. Und das alles nur, weil die Möglichkeiten der Erzählperspektive vollkommen ausgeschöpft wurden.
Alle Alarmglocken sollten bei dir läuten, wenn in deinem Text in einer beschreibenden Passage plötzlich das Signalwort „man“ auftaucht. Es ist ein sicheres Indiz dafür, dass du die individuelle Erzählperspektive gerade verlässt. „Man“ ist immer allgemein. Allgemein ist uninteressant. Den Leser interessiert die Welt deiner Figur.
Der auktoriale Erzähler
Alles schön und gut. Aber war da nicht noch was? Richtig: der auktoriale Erzähler. Die auktoriale Erzählperspektive kennen wir aus dem Märchen. Sie stellt alles bisher erwähnte scheinbar auf den Kopf. Denn der auktoriale Erzähler weiß alles, er sieht alles und er kann überhaupt alles. Das macht ihn auf den ersten Blick überaus verlockend. Warum sich mit den Einschränkungen und Herausforderungen eines personalen oder Ich-Erzählers herumschlagen, wenn es auch anders funktioniert?
Ganz einfach: Der auktoriale Erzähler ist nur ein scheinbarer Ausweg. Deswegen bezeichne ich diese Erzählperspektive auch gern mit einem Augenzwinkern als „die dunkle Seite der Macht“. Was auf den ersten Blick als der Retter in der Not erscheint, stellt in Wahrheit meiner Erfahrung nach die schwerste Erzählperspektive überhaupt dar. Als auktorialer Erzähler sitzt du quasi auf dem Chefposten. Du hast alle Fäden in der Hand. Es gibt keine Ausreden mehr. Du musst alle deine Figuren gezielt leiten und zeitgleich den Leser sicher durch deine Geschichte führen. Du bist Gott, Psychologe und Reiseleiter zugleich.
Aber: Auch ein auktorialer Erzähler hat eine individuelle Perspektive. Auch der auktoriale Erzähler ist nie der Autor selbst! Auch er bewertet. Auch er nimmt Stellung zum Geschehen. Darüber hinaus kommentiert er oder macht Andeutungen zu zukünftigen Ereignissen. Das verlangt vollkommene Sicherheit in der Erzählführung. Der Leser durchschaut sofort, ob du MeisterIn der Erzählführung bist oder den auktorialen Erzähler als „faule Ausrede“ benutzt. Letzteres wird der Leser schlimmstenfalls damit bestrafen, dass er nie wieder einen Text von dir anrührt.
Figur sein vs. Figur sehen
Am ehesten verständlich wird der Unterschied zwischen personal und auktorial, wenn du dir folgendes bewusst machst. Bei jeglicher Form der personalen Erzählperspektive (ich, er, sie, du) erzeugst du bei deinen Lesern das Gefühl, selbst die jeweilige Perspektivfigur zu sein. Es gibt keine Grenzen zwischen Leser und Text. Ganz im Gegenteil: Du lädst mit einer personalen Perspektive deine Leser dazu ein, selbst Bestandteil deiner Erzählwelt zu werden.
Bei einem auktorialen Erzähler ist das anders. Denn ein auktorialer Erzähler ist eine Erzählstimme, die das gesamte Geschehen deines Romans von außen betrachtet. Sie kann zwar verraten und offenbaren, was die Figuren deiner Geschichte denken und fühlen. Aber es gibt eine klare Grenze zwischen deiner Geschichte und deinen Lesern. Und diese Grenze ist der Erzähler selbst. Er agiert wie ein Moderator, der durch die Geschichte führt. Das hat zur Folge, dass deine Leser vom Gefühl her niemals wirklich Bestandteil deiner Geschichte werden können. Daher sprechen viele Schreibratgeber auch häufig von einer Distanz, die durch ihn erzeugt wird.
Merke dir einfach: Bei einem personalen Erzählperspektive IST dein Leser die Perspektivfigur. Bei einer auktorialen Erzählperspektive SIEHT er sie nur.
Welche Perspektive passt?
Nun bleibt dir aber leider eine entscheidende Frage nicht erspart: Für welche Erzählperspektive sollst du dich entscheiden? Ein personaler Erzähler führt nämlich nicht selten zu regelrechten Panikattacken. Schließlich kann man plötzlich ganz viele Sachen nicht mehr so einfach erzählen. Die personale Perspektive schränkt zunächst erst einmal ein. Oder? Du ahnst es vielleicht. Dieses Denken ist ein Trugschluss, denn:
Es zählt nicht, was du verlierst.
Sondern, was du gewinnst.
Also raus aus der Komfortzone! Auch wenn die bewusste Anwendung der Erzählperspektive sich vielleicht erst einmal nach Eingrenzung anfühlt. Ja, vielleicht wirst du an vielen Stellen umdenken müssen. Vielleicht wirst du deine Geschichte auch komplett anders erzählen müssen als geplant. Fakt aber ist: Am Ende kannst du nur gewinnen.
Jedem Anfänger rate ich, so viele Kurzgeschichten wie möglich in der Ich-Perspektive zu schreiben. Die Ich-Perspektive ist das ideale Training für den sicheren Umgang mit der Erzählperspektive. Die Ich-Form macht es dir quasi unmöglich, aus der individuellen Sichtweise deiner Figur auszubrechen. So bekommst du schnell ein Gefühl dafür, worauf es ankommt.
Die Mühe lohnt sich. Beherrschst du den Umgang mit der Erzählperspektive, werden sich deine Texte enorm verbessern und mit ihnen dein Schreibhandwerk. Der Leser wird es dir danken!